24

 

Renatas Herz verkrampfte sich, als sie Nikolai fluchen hörte.

Sie griff nach dem Lichtschalter neben der offenen Tür von Jakuts Schlafzimmer und knipste das Licht an.

Sprachlos starrte sie auf Lex' leblosen Körper hinunter, auf seine leeren, gebrochenen Augen und die drei riesigen Einschusslöcher in seiner Stirn. Sie wollte schreien. Gott im Himmel, sie wollte auf die Knie fallen, sich mit ihren Händen in ihrem Haar verkrallen und zum Dach hinaufbrüllen - nicht aus Kummer oder Entsetzen, sondern aus reiner, abgrundtiefer Wut.

Aber sie bekam kaum noch Luft.

Ihre Glieder waren schwer wie Blei, Arme und Beine gehorchten ihr nicht mehr.

Jede Hoffnung, dass sie hier auf eine heiße Spur zu Mira stoßen würden, zerrann mit Lex' Blut, das im Zimmer seines Vaters zwischen den Dielenbrettern versickerte.

„Renata, wir finden schon einen anderen Weg", sagte Nikolai irgendwo in ihrer Nähe. Er beugte sich über die Leiche, zog ein Handy aus Lex' Jackettasche, klappte es auf und drückte ein paar Tasten. „Jetzt wissen wir immerhin, mit wem Lex telefoniert hat. Eine dieser Nummern wird die von Fabien sein. Ich werde Gideon kontaktieren, er soll sie überprüfen. Wir werden schon sehr bald was über Fabien in der Hand haben. Wir kriegen ihn, Renata."

Sie konnte nicht antworten; sie hatte keine Worte mehr.

Langsam drehte sie sich um und ging aus dem Raum, war sich kaum bewusst, dass ihre Füße sich bewegten. Sie trieb durch das dunkle Jagdhaus, an den Leichen in der großen Halle vorbei, den Gang hinunter ... unsicher, wohin sie eigentlich ging, und doch nicht überrascht, als sie sich in dem winzigen Zimmer wiederfand, in dem Mira geschlafen hatte.

Das kleine Bett war genauso, wie Mira es verlassen hatte, als erwartete es ihre Wiederkehr. Drüben auf dem gedrungenen kleinen Nachttisch war eine Wildblume, die Mira vor einigen Tagen gepflückt hatte, bei einer der seltenen Gelegenheiten, als Sergej Jakut dem Kind erlaubt hatte, draußen zu spielen. Miras Blume war inzwischen welk, die zarten, weißen Blütenblätter hingen schlaff herab, der grüne Stängel leblos wie ein Stück Schnur.

„Oh, mein süßes Mäuschen", flüsterte Renata in den dunklen, leeren Raum hinein. „Es tut mir so leid ... so leid, dass ich jetzt nicht für dich da sein kann ..."

„Renata." Nikolai stand im Gang vor dem Zimmer.

„Renata, tu dir das nicht an. Du kannst nichts dafür. Und das alles ist noch nicht vorbei. Noch nicht."

Seine tiefe Stimme war tröstlich, allein sie zu hören und zu wissen, dass er bei ihr war. Sie brauchte diesen Trost, aber weil sie ihn nicht verdiente, weigerte sich Renata, sich in seine Arme zu werfen, wie sie es sich so verzweifelt wünschte. Sie blieb, wo sie war, starr und regungslos. Sie wünschte sich so sehr, ihr Versagen rückgängig machen zu können. Sie konnte es nicht ertragen, auch nur eine weitere Minute im Jagdhaus zu bleiben. Zu viele düstere Erinnerungen waren hier. Zu viel Tod.

Renata ließ die tote Blume aus ihren Fingern aufs Bett fallen. Sie fuhr herum, zur Tür. „Ich muss hier raus", murmelte sie, Schuldgefühle und Qual zerrissen ihr das Herz. „Ich kann nicht ... ich ersticke hier drin ... kann nicht ... atmen ..."

Sie wartete seine Antwort nicht ab - konnte nicht weiter in diesem Zimmer bleiben, keine Sekunde länger. Sie drängte sich an ihm vorbei und rannte aus Miras verwaistem Zimmer.

Sie blieb erst stehen, als ihre Füße sie aus dem Hintereingang des Hauses in den umgebenden Wald getragen hatten. Und immer noch fühlten ihre Lungen sich an, als steckten sie in einem Schraubstock.

Sie merkte, wie vom Nacken herauf Kopfschmerzen erwachten. Noch schmerzte ihre Haut nicht, aber sie war völlig ausgelaugt und wusste, nun würde es nicht mehr lange dauern, bis die Nachwirkungen ihrer übersinnlichen Gabe sie umwarfen. Wenigstens ihre Schulter schien halbwegs in Ordnung. Die Schusswunde war immer noch da, ebenso ein stumpfes Pulsieren in ihren Muskeln, aber Nikolais Blut hatte bei der Entzündung wahre Wunder gewirkt.

Als sie um sich sah und den abgeschlossenen Schuppen erblickte - das Gebäude, in das man sie und so viele andere als Köder für Jakuts kranken Blutsport eingesperrt hatte -, dachte sie keine Sekunde lang nach, sondern stapfte hinüber und zog das Maschinengewehr der Agentur hervor, das ihr auf den Rücken geglitten war. Sie schoss auf das schwere Vorhängeschloss, bis es zersprang und zu Boden fiel. Dann stieß sie die Tür auf und feuerte hinein, durchsiebte das riesige Gefängnis, die Wände und Dachsparren mit einem vernichtenden Kugelhagel.

Sie nahm den Finger erst vom Abzug, als das Magazin leer war und ihre Kehle rau vom Schreien. Ihre Schultern bebten, ihre Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg.

„Ich hätte hier sein sollen", sagte sie und hörte Nikolai, wie er hinter ihr an die Schuppentür trat. „Dass Lex sie Fabien gegeben hat, hätte ich verhindern müssen. Ich hätte für Mira da sein sollen. Stattdessen war ich im Bett, geschwächt von meinem Echo ... nutzlos."

Er gab ein leises Schnalzen von sich, verneinte wortlos ihre Schuld. „Du konntest doch gar nicht wissen, dass sie in Gefahr war. Du hättest nichts von dem verhindern können, was passiert ist, Renata."

„Ich hätte das Jagdhaus nie verlassen dürfen!", schrie sie, Selbstverachtung verbrannte sie wie Säure. „Ich bin abgehauen, und dabei hätte ich die ganze Zeit über hierbleiben und Lex bearbeiten sollen, bis er mir verraten hätte, wo sie ist."

„Du bist nicht abgehauen. Du bist weggegangen, um mich zur Hilfe zu holen. Wenn du das nicht getan hättest, wäre ich jetzt tot." Seine Schritte kamen näher, er stellte sich vorsichtig hinter sie. „Wenn du die ganze Zeit über hiergeblieben wärst, Renata, dann wärst du heute Nacht getötet worden, zusammen mit Lex und den anderen Wachen. Was hier stattgefunden hat, war eine eiskalt geplante Hinrichtung, und so wie es aussieht, geht sie auf Fabiens Konto."

Er hatte recht. Sie wusste, dass er recht hatte, und zwar in allen Punkten. Aber davon wurde ihr Schmerz nicht weniger.

Renata starrte, ohne etwas zu sehen, in den Pulverdampf, der aus dem gähnenden Schlund der Schuppentür aufstieg.

„Wir müssen in die Stadt zurück und anfangen, sie zu suchen. Und wenn wir uns jedes verdammte Haus einzeln vornehmen."

„Ich weiß, wie du dich fühlst", sagte Nikolai. Er berührte ihren Nacken, und sie zwang sich dazu, vor seiner Zärtlichkeit zurückzuweichen. „Verdammt, Renata, denkst du nicht, ich wäre mit von der Partie, von hier bis nach Old Port Türen einzutreten, wenn es uns zu Fabien führen würde? Aber das wird uns rein gar nichts bringen. Schon gar nicht mit dem Tagesanbruch im Nacken. Uns bleiben nur noch ein paar Stunden."

Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss mir wegen des Tageslichts keine Sorgen machen. Ich kann allein in die Stadt zurück ..."

„Den Teufel wirst du." Seine Hände waren grob, als er sie zu sich umdrehte, bis sie ihn ansah. In seinen Augen glitzerten bernsteinfarbene Funken und eine Gefühlsregung, die selbst in der Dunkelheit erstaunlich nach Angst aussah.

„Ohne mich gehst du nicht mal in die Nähe von Fabien." Er strich ihr über die Stirn, seine Augen brannten sich wild in ihre. „Wir hängen da gemeinsam drin, Renata. Das weißt du doch, oder? Du weißt, dass du mir vertrauen kannst?"

Sie starrte in Nikolais Gesicht und spürte, wie sich in ihrem Inneren ein Gefühlssturm zu erheben begann und sie überflutete wie eine tosende Welle, die sie nicht zurückhalten konnte. Tränen brannten in ihren Augen und füllten sie. Bevor sie die Flut stoppen konnte, weinte sie schon, als wäre in ihr ein Damm gebrochen, und all der Schmerz, den sie je gefühlt hatte - all der Schmerz und all die Leere ihres Daseins -, brach nun in heftigem Schluchzen aus ihr heraus.

Nikolai legte seine starken Arme um sie und hielt sie fest. Er versuchte nicht, ihre Tränen zu trocknen. Er versuchte nicht, sie mit wohlmeinenden Lügen zu trösten oder ihr falsche Versprechungen zu machen, um ihre Verzweiflung zu mildern.

Er hielt sie einfach nur fest.

Hielt sie fest und ließ sie damit wissen, dass er sie verstand. Dass sie nicht allein war und dass sie es vielleicht doch irgendwie wert war, geliebt zu werden.

Er hob sie hoch in seine Arme und trug sie von dem kugeldurchsiebten Schuppen fort. „Suchen wir dir einen Ort, wo du dich ein bisschen ausruhen kannst", sagte er, und sie spürte das Vibrieren seiner tröstlichen Stimme in seinem Brustkorb, als sie sich an ihn klammerte.

„Ich kann nicht zurück ins Jagdhaus, Nikolai. Ich werde nicht dort bleiben."

„Weiß ich doch", murmelte er und trug sie tiefer in die Wälder. „Ich habe eine andere Idee."

Er setzte sie in einer laubübersäten Nische zwischen zwei hoch aufragenden Fichten ab. Renata wusste nicht, was sie erwartete, aber sie hätte sich nie vorstellen können, was im nächsten Augenblick geschah.

Nikolai kniete sich in ihrer Nähe auf den Boden und breitete die Arme weit aus, mit gesenktem Kinn, sein riesiger, muskulöser Körper war ein Beispiel tiefster Konzentration. Um sich herum spürte Renata ein elektrisches Knistern. Sie roch fette, fruchtbare Erde, wie im Wald nach einem Regenguss. Eine warme Brise kitzelte sie im Nacken, als Niko auf beiden Seiten mit den Fingerspitzen den Boden berührte.

Um sie herum ertönte ein leises Rascheln im Gras - ein Flüstern lebendiger Vegetation. Renata sah, wie sich unter Nikolais Händen etwas hervorkringelte, und keuchte verwundert auf, als sie erkannte, was es war.

Winzige Ranken schossen durch den Waldboden auf die beiden Fichten zu, zwischen denen sie saß.

„Oh mein Gott", murmelte sie, gebannt vor Staunen.

„Nikolai ... was machst du da?"

„Keine Angst", sagte er und sah den Ranken zu - lenkte sie, auch wenn es kaum zu glauben war.

Die Triebe schossen spiralförmig um die Baumstämme und kletterten höher, sie bekamen Blätter, die sich unter ihren Augen explosionsartig vermehrten. Gut zweieinhalb Meter über ihrem Kopf krochen die Ranken zwischen den beiden Fichten aufeinander zu, drehten sich zusammen und schickten weitere Schösslinge zum Boden hinunter. Sie erschufen ein lebendiges Laubzelt, das sich bis ganz auf den Boden erstreckte, dort, wo Renata und Nikolai saßen.

„Du machst das?", fragte sie ungläubig.

Er nickte, behielt aber weiterhin seine Kreation im Blick, und immer neue Blätter entfalteten sich an den Ranken.

Dicke, duftende Laubwände bildeten eine schützende Zuflucht um sie herum, das üppige Grün gesprenkelt mit denselben winzigen weißen Blüten, die Renata in Miras Zimmer gefunden hatte.

„Okay ... wie machst du das?"

Das Rascheln wachsender Pflanzen legte sich, und Nikolai warf ihr einen lässigen Blick zu. „Die Gabe meiner Mutter, die sie an ihre beiden Söhne vererbt hat."

„Wer ist deine Mom, Mutter Natur?", sagte Renata und lachte entzückt, obwohl sie wusste, dass die wunderschönen Blumen nur ein provisorischer Schutz waren. All die Hässlichkeit und Gewalt da draußen blieben unverändert.

Nikolai lächelte und schüttelte den Kopf. „Meine Mutter war eine Stammesgefährtin wie du. Deine Gabe ist deine mentale Waffe. Das hier war ihre."

„Unglaublich." Renata strich mit der Hand über die kühlen Blätter und zarten Blüten. „Himmel, Nikolai, deine Gabe ist ... Wahnsinn  trifft es nicht mal annähernd."

Er zuckte mit den Schultern. „Ich hatte nie viel Verwendung dafür. Gib mir lieber ein Magazin Hohlspitzenmunition oder ein paar Stangen C-4, dann zeig ich dir, was Wahnsinn ist."

Es sollte lässig klingen, aber sie spürte, dass seine Gewandtheit nur Fassade war für etwas anderes, Düsteres.

„Was ist mit deinem Bruder?"

„Was soll mit ihm sein?"

„Du hast gesagt, er kann das auch?"

„Er konnte es, ja", sagte Nikolai, und die Worte klangen etwas hohl. „Dmitrij war jünger als ich. Er ist tot. Es ist vor langer Zeit passiert, noch damals in Russland."

Renata verzog das Gesicht. „Tut mir leid."

Er nickte, pflückte ein Blatt aus dem Blätterdschungel und zerriss es. „Er war noch ein Teenie - ein guter Junge. Er war ein paar Jahrzehnte jünger als ich. Ist mir immer nachgelaufen wie so ein verdammter kleiner Hundewelpe und wollte alles tun, was ich tat. Ich hatte nicht viel Zeit für ihn. Ich lebte gern gefährlich - Scheiße, so wie eben heute auch. Jedenfalls, Dmitrij hatte sich in den Kopf gesetzt, mich zu beeindrucken." Er stieß einen rauen, erstickten Fluch aus. „Der kleine Idiot. Er hätte alles getan, nur damit ich ihn bemerke, weißt du? Damit ich ihm sage, dass ich ihn toll finde, dass ich stolz auf ihn bin."

Renata sah ihn im Dunkel an und erkannte in ihm dieselben Schuldgefühle wie bei sich, wenn sie an Mira dachte. Sie sah dasselbe Grauen in ihm, denselben Selbsthass, weil ein Kind in ernster Gefahr war - oder womöglich sogar schon tot -, nur weil jemand, dem es vertraute, es im Stich gelassen hatte.

Nikolai kannte diese Qualen. Er hatte sie selbst durchlebt.

„Was ist mit Dmitrij passiert?", fragte Renata sanft. Sie wollte keine alten Wunden aufreißen, aber sie musste es wissen. Und so, wie es ihn quälte, konnte sie sehen, dass Nikolai diesen Schmerz schon viel zu lange mit sich herumtrug. „Du kannst es mir sagen, Nikolai. Was ist mit deinem Bruder passiert?"

„Er war nicht wie ich", sagte er, die Worte unter dem Gewicht der Vergangenheit nachdenklich. „Dmitrij war klug, ein Musterschüler. Er hat seine Bücher und die Philosophie geliebt, hat es geliebt, hinter die Dinge zu schauen, herauszufinden, wie alles um ihn herum funktionierte, damit er es wieder zusammenfügen konnte. Er war brillant, hochbegabt, aber er wollte lieber sein wie ich."

„Und wie warst du damals?"

„Wild", sagte er, und es klang wie eine Beschreibung, nicht wie Prahlerei. „Ich bin der Erste, der das zugeben würde. Ich bin immer ein bisschen waghalsig gewesen. Mir war egal, wo ich morgen landen würde, solange ich mich heute amüsieren konnte. Dmitrij war ein nachdenklicher Junge - ich stand auf Adrenalin. Ihm hat es Spaß gemacht, die Dinge zusammenzufügen - mir macht es Spaß, sie in die Luft zu jagen."

„Bist du darum dem Orden beigetreten? Wegen des Adrenalinstoßes beim Kampf?"

„Zum Teil schon." Er stützte seine Ellbogen auf die Knie und starrte zu Boden. „Nach dem Mord an Dmitrij musste ich weg. Ich habe mir die Schuld daran gegeben, was passiert war. Auch meine Eltern haben mir die Schuld daran gegeben. Ich habe das Land verlassen und bin in die Staaten gekommen. Hab mich nicht viel später mit Lucan und den anderen in Boston zusammengetan."

Ihr war nicht entgangen, dass er gesagt hatte, dass sein Bruder ermordet worden war, nicht einfach gestorben.

„Was ist passiert, Nikolai?"

Er stieß einen langen Seufzer aus. „Ich hatte eine alte Fehde mit so einem Arschloch aus einem Dunklen Hafen in der Ukraine. Manchmal sind wir ziemlich übel aneinandergeraten, wohl vor allem aus Langeweile. Aber eines Nachts hört Dmitrij diesen Schwachkopf in einer Taverne Scheiße über mich reden und beschließt, ihn zur Rede zu stellen. Dmitrij hat eine Klinge gezogen und verpasste dem Kerl vor all seinen Freunden einen Stich. Es war ein Glückstreffer - Dima war lausig mit Waffen. Wie auch immer, der Mistkerl war stinksauer, und zwei Minuten später liegt mein Bruder in einer Blutlache, den Kopf vom Hals gehauen."

„Oh mein Gott." Renata holte scharf Atem. Sie fühlte sich ganz elend. „Das tut mir so leid, Nikolai."

„Mir auch." Er zuckte mit den Schultern. „Später bin ich losgezogen und habe Dmitrijs Mörder aufgespürt. Ich habe mir seinen Kopf geholt und ihn meinen Eltern als Entschuldigung gebracht. Sie wiesen mich ab und sagten, dass besser ich gestorben wäre anstelle von Dima. Konnte ich ihnen nicht mal übel nehmen. Hölle noch mal, sie hatten ja recht. Also bin ich gegangen und habe nie zurückgeschaut."

„Tut mir leid, Nikolai."

Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie hatte nur wenig Erfahrung damit zu trösten, und selbst wenn sie es tat, war sie nicht sicher, ob er ihren Trost überhaupt wollte oder brauchte. Nikolai verstummte und schwieg lange, als ob er sich in seiner eigenen Haut plötzlich unbehaglich fühlte.

Er räusperte sich, dann fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und stand auf. „Ich sollte gehen und mich noch mal beim Jagdhaus umsehen. Kommst du hier draußen ein paar Minuten allein zurecht?"

„Klar. Mir geht's gut,"

Er musterte prüfend ihr Gesicht. Sie wusste nicht, was sie jetzt gern von ihm gehört hätte, aber der Blick in seinen Augen schien irgendwie verschlossen. „Wie geht's dir? Noch keine Anzeichen, dass das Echo einsetzt?"

Renata zuckte mit den Schultern. „Ein bisschen, aber es ist noch nicht schlimm."

„Und deine Schulter?"

„Gut", sagte sie und bewegte den linken Arm, um ihm zu zeigen, dass sie keine Schmerzen hatte. „Fühlt sich schon viel besser an."

Ein längeres, unbehagliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sie wussten beide nicht, ob sie es brechen oder es sich einfach machen und weiter schweigen sollten.

Erst als Nikolai begann, den Vorhang aus dicken Ranken zu heben, streckte Renata die Hand aus und berührte ihn.

„Nikolai, ich .. äh, .. ich wollte dir danken", sagte sie, und obwohl er stehen geblieben war, ließ sie ihre Hand bewusst auf seinem Arm liegen. „Ich muss dir danken . . dafür, dass du mir heute dein Blut gegeben hast."

Er drehte sich zu ihr um und schüttelte leicht den Kopf.

„Dankbarkeit ist nett, aber ich brauche sie nicht. Im umgekehrten Fall weiß ich, dass du dasselbe für mich getan hättest."

Das hätte sie; soviel konnte Renata ohne den leisesten Zweifel sagen. Dieser Mann, der noch vor nicht ganz einer Woche ein Fremder für sie gewesen war - dieser Krieger, der zufällig auch ein Vampir war -, war nun ihr vertrauenswürdigster, engster Freund. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass Nikolai viel mehr war als das und es auch schon gewesen war, noch bevor er sein Blut mit ihr geteilt hatte.

Selbst vor dem Sex, der noch immer ihre Knie weich werden ließ, wenn sie nur daran dachte.

„Ich bin nicht gut in so was . ." Renata sah zu ihm auf, kämpfte mit den Worten, musste sie aber aussprechen. „Ich bin es nicht gewohnt, mich auf andere zu verlassen. Ich bin noch nie so mit jemandem zusammen gewesen. Denn so was hatte ich noch nie, und .. ich fühle mich, als ob alles, von dem ich dachte, dass ich es weiß und kann, alles, was mir früher geholfen hat, zu überleben, mich verlässt. Ich habe keinen Halt mehr . . ich habe Angst."

Nikolai streichelte ihre Wange, dann zog er sie in seine Umarmung. „Du bist in Sicherheit", sagte er zärtlich an ihrem Ohr. „Ich halte dich fest, und ich passe auf dich auf."

Sie hatte nicht gewusst, wie sehr sie sich gewünscht hatte, diese Worte zu hören, bis Nikolai sie zu ihr sagte. Sie hatte nicht gewusst, wie sehnlich sie seine Arme um sich spüren wollte oder wie glühend sie sich nach seinem Kuss gesehnt hatte, bis Nikolai sie an sich zog und ihren Mund mit seinen Lippen streifte. Renata küsste ihn mit Hingabe, ließ sich ganz in den Augenblick fallen, denn Nikolai war bei ihr, hielt sie, war ihr schützender Hafen.

Sein Kuss wurde leidenschaftlicher, er ließ sie auf dem gepolsterten Boden ihres schützenden Pflanzenzeltes auf den Rücken gleiten. Renata genoss das Gefühl seines Gewichtes auf ihr, seine warmen, zielstrebigen Hände, die sie streichelten. Er erkundete sie unter ihrem weiten T-Shirt, strich mit den Fingern über ihren Bauch und hinauf zu ihren Brüsten.

Er fuhr ihr leicht und neckend mit den Fangzähnen über die Lippen, als er sich aus dem Kuss löste. Seine Augen unter den schweren Lidern waren wie glühende Kohlen. Sie musste sein verwandeltes Gesicht gar nicht sehen, um zu wissen, dass er sie wollte, denn der Beweis drückte sich hartnäckig gegen ihre Hüften. Sie fuhr mit der Hand seinen Rücken hinauf, und er stöhnte, sein Becken bäumte sich reflexartig auf.

Er stöhnte kehlig ihren Namen, als er mit seinem Mund an ihrem Kinn vorbei und ihren Hals hinunterfuhr. Er schob ihr T-Shirt hoch, und Renata bäumte sich auf, seinen Lippen entgegen, die sich auf ihre nackten Brüste und ihren glatten, flachen Bauch senkten. Sie war verloren an die Lust seines Kusses, an das Gefühl seiner Haut auf ihrer.

Mit geschickten Fingern öffnete er ihre Jeans und zog sie ihr von den Hüften. Sein Mund folgte dem Weg seiner Finger und versengte Renatas Haut von der Hüfte bis zum Knöchel, als er ihre Beine befreite und die Jeans zur Seite stieß. Sie schrie auf, als er sich zwischen ihre Schenkel beugte und an ihr saugte, ihr mit Zunge und Fangzähnen lustvolle Qualen bereitete.

„Oh Gott", keuchte sie und hob ihm die Hüften entgegen, als er seinen Mund in ihrer Mitte vergrub.

Sie wusste nicht, wie er es so schnell geschafft hatte, aber schon einen Augenblick später war auch er nackt. Er ragte hoch über ihr auf, mehr als nur ein Mensch, mehr als nur ein Mann, und alles Weibliche in Renata zitterte vor Begehren.

Sie öffnete ihm ihre Beine, gierig, ihn in sich zu spüren, wie er sie mit seiner Stärke und Hitze erfüllte.

„Bitte", stöhnte sie, keuchend vor Verlangen.

Er ließ sich nicht zweimal bitten.

Nikolai legte sich über sie, zwängte seine Knie zwischen ihre Beine und spreizte sie weit unter ihm. Seine Eichel stupste gegen die schlüpfrige Spalte, dann tauchte sie ein, lang, langsam und tief.

Sein Knurren, als er in sie eindrang, war heftig wie ein Donnergrollen und vibrierte in ihren Knochen und ihrem Blut. Er ließ sich am Anfang Zeit, auch wenn Geduld für ihn die reine Folter war. Renata konnte die Intensität seines Hungers nach ihr spüren, die Tiefe seiner Lust, als ihr Körper ihn in ganzer Länge in sich aufnahm.

„Du fühlst dich so gut an", murmelte er und saugte ein Zischen ein, als er sich zurückzog und sie wieder füllte, tiefer als zuvor. Seine Stöße wurden härter, er zitterte vor Anspannung. „Himmel, Renata ... du fühlst dich so verdammt gut an."

Sie verhakte die Knöchel hinter seinem Po, und er verfiel in ein drängenderes Tempo. „Härter", flüsterte sie, wollte spüren, wie er ihre Ängste weghämmerte, wie ein Hammer all ihre Schuldgefühle, ihren Schmerz und ihre Leere zerschmetterte. „Oh Gott, Nikolai ... fick mich härter."

Seine Antwort war ein wildes, gieriges Fauchen. Er fuhr mit dem Arm unter sie, hob sie seinen Stößen entgegen und stieß mit all der Wildheit in sie, die sie so verzweifelt brauchte. Er fuhr auf ihren Mund nieder zu einem fiebrigen Kuss und fing ihren Aufschrei auf, als der Orgasmus wie ein Sturm in ihr aufbrüllte. Renata zitterte und bebte, sie klammerte sich an ihn, und er stieß weiter in sie, jeder Muskel in seinem Rücken und den Schultern so hart wie Granit.

„Oh Gott", stieß er zwischen zusammengebissenen Fangzähnen hervor, seine Hüften stießen schnell und wild gegen sie, in einem waghalsigen Rhythmus, der sich so gut anfühlte. So richtig.

Er explodierte mit einem heiseren Schrei, gefolgt von ihrem eigenen, als Renata an ihn geklammert erneut kam, sich an dieses köstliche neue Gefühl der Hingabe verlor.

Sie war wirklich haltlos, aber in diesem Augenblick spürte sie keine Angst, denn sie war in Sicherheit bei diesem wilden, verwegenen Mann - davon war sie überzeugt. Sie vertraute Nikolai mit ihrem Körper und ihrem Leben. Als sie eng verschlungen mit ihm dalag, fiel es ihr nicht schwer, sich vorzustellen, dass sie ihm auch mit ihrem Herzen vertrauen konnte.

Dass sie wohl gerade dabei war, sich in ihn zu verlieben.

 

Das Klopfen war hartnäckig - ein hektischer Rhythmus auf der massiven Eichenholztür von Andreas Reichens Dunklem Hafen in Berlin.

„Andreas, bitte! Bist du da? Ich bin's, Helene. Ich muss mit dir reden!"

Um diese Zeit, kurz nach vier Uhr morgens, wenn schon bald die ersten Sonnenstrahlen über dem Horizont erscheinen würden, waren im Dunklen Hafen nur noch ein paar Versprengte wach. Der Rest von Reichens Verwandten - insgesamt fast ein Dutzend junge Stammesvampire und blutsverbundene Paare mit kleinen Kindern, einige davon Neugeborene - hatten sich schon für den Tag schlafen gelegt.

„Andreas? Irgendjemand?" Wieder ertönte eine panische Klopfserie, gefolgt von einem entsetzten Aufschrei. „Hallo!

Irgendwer ... bitte, lasst mich doch rein!"

Im Innern des Anwesens kam ein junger Mann aus der Küche. Er hatte gerade eine Tasse Milch für seine Gefährtin warm gemacht, die sich oben im Kinderzimmer um ihren unruhigen kleinen Sohn kümmerte. Er kannte die Menschenfrau, die draußen vor der Tür stand. Fast alle im Dunklen Hafen kannten sie, und Andreas hatte deutlich gemacht, dass Helene in seinem Haus immer willkommen war. Dass sie so spät noch kam, unangekündigt, und das, während Andreas in einer Privatangelegenheit zwei Nächte außer Haus war, war allerdings ungewöhnlich.

Noch ungewöhnlicher war die Tatsache, dass diese sonst so abgebrühte Geschäftsfrau offenbar völlig verängstigt war.

Von Besorgnis ergriffen, was wohl mit Andreas'

menschlicher Gefährtin geschehen sein konnte, stellte der Mann die dampfende Milchtasse ab und rannte über den Marmorboden des Vestibüls, sein Bademantel flatterte hinter ihm her wie ein Segel.

„Ich komme", rief er und hob die Stimme, um Helenes unablässiges Klopfen und ihre tränenerstickten Hilferufe auf der anderen Seite der Tür zu übertönen. Seine Finger flogen über das elektronische Eingabefeld der Alarmanlage des Anwesens. „Einen Moment! Ich bin gleich so weit, Helene. Keine Angst, gleich können Sie ins Haus."

Als das elektronische Lämpchen blinkte, um anzuzeigen, dass die Sensoren deaktiviert waren, warf er den Riegel herum und öffnete die Tür.

„Oh, Gott sei Dank!" Helene eilte auf ihn zu, ihr Make-up war verlaufen, es rann ihr in nassen, schwarzen Spuren die Wange hinunter. Sie war bleich und zitterte, ihre sonst so klaren Augen wirkten irgendwie leer, als sie den Blick rasch durchs Foyer wandern ließ. „Andreas ... wo ist er?"

„Bis morgen Nacht in einer Privatangelegenheit nach Hamburg geflogen. Aber Sie sind hier natürlich willkommen." Er trat zurück, um sie eintreten zu lassen.

„Kommen Sie, Helene. Andreas würde nicht wollen, dass ich Sie draußen stehen lasse."

„Nein", sagte sie, und ihre Stimme klang seltsam stumpf.

„Ich weiß, er würde mich nie abweisen."

Sie kam ins Foyer und schien sich zusehends zu beruhigen. „Sie haben gewusst, dass er mich niemals abweisen würde ..."

In diesem Augenblick erkannte der junge Bewohner des Dunklen Hafens, dass Helene nicht allein gekommen war.

Bevor er auch nur erschreckt aufschreien konnte, polterte hinter ihr eine Truppe schwer bewaffneter Agenten herein, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.

Er warf den Kopf herum, um Helene in äußerstem Entsetzen anzusehen. „Warum?", fragte er, sah aber die Antwort bereits in ihren leeren Augen.

Jemand hatte sie in seiner Gewalt. Jemand, der sehr mächtig war.

Jemand hatte Helene zu seiner Lakaiin gemacht.

Kaum war der Gedanke zu ihm durchgedrungen, als ihn auch schon der erste Schuss traf. Er hörte, wie mehrere Salven abgefeuert wurden, hörte die Schreie seiner Familie, als der Dunkle Hafen mit Schrecken erwachte.

Aber dann schlug eine weitere Kugel in seinem Schädel ein, und seine Welt und alles, was in ihr war, versank in Dunkelheit und Stille.

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